11.

»Vorwärts, Hradschek!«

Und zwischen den großen Ölfässern hin ging er bis an den Kellereingang, hob die Falltür auf und stieg langsam und vorsichtig die Stufen hinunter. (…)

Was noch geschehen mußte, geschah still und rasch, und schon um die neunte Stunde des folgenden Tages trug Eccelius nachstehende Notiz in das Tschechiner Kirchenbuch ein:

»Heute, den 3. Oktober, früh vor Tagesanbruch, wurde der Kaufmann und Gasthofsbesitzer Abel Hradschek ohne Sang und Klang in den hiesigen Kirchhofsacker gelegt. Nur Schulze Woytasch, Gendarm Geelhaar und Bauer Kunicke wohnten dem stillen Begräbnisakte bei. Der Tote, so nicht alle Zeichen trügen, wurde von der Hand Gottes getroffen, nachdem es ihm gelungen war, den schon früher gegen ihn wach gewordenen Verdacht durch eine besondere Klugheit wieder zu beschwichtigen. Er verfing sich aber schließlich in seiner List und grub sich, mit dem Grabscheit in der Hand, in demselben Augenblicke sein Grab, in dem er hoffen durfte, sein Verbrechen für immer aus der Welt geschafft zu sehn. Und bezeugte dadurch aufs Neue die Spruchweisheit: ›Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen.«

(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

 

 

Als Mannhardt, sein Enkel und Heike beisammensaßen, kamen sie natürlich auch auf diese Passage in Fontanes Roman zu sprechen und darauf, wo es Parallelen gab und wo im Fall Schulz/Wiederschein/Klütz die Dinge doch ganz anders lagen.

Orlando fasste zusammen, wie es in ›Unterm Birnbaum‹ zugegangen war: »Hradschek hat den ermordeten Szulski bei sich im Keller vergraben, da war gleich die Erde, eine Hausplatte aus Beton gab es damals nicht. Nun will er ihn fortschaffen und in die Oder werfen, weil das Gerede der Leute nicht aufhört und man über kurz oder lang an der richtigen Stelle suchen könnte. Als er unten ist, rollen oben Ölfässer über die Falltür, und er kann sich nicht mehr selbst befreien. Seine Leute, die nicht im Hause sind, bemerken sein Fehlen erst am nächsten Morgen und finden ihn dann tot im Keller. Die Hand des verscharrten Szulskis ragt aus der Erde. Wie Hradschek dort unten ums Leben gekommen ist, verschweigt Fontane, vielleicht ist der Mörder beim Anblick der Leiche kollabiert.«

»Das bringt uns doch nichts«, sagte Heike. »Denn Schulz ist nicht – von wem auch immer – in Wiederscheins Keller vergraben worden, sondern unter Klütz’ Garage.«

»Trotzdem kommt Wiederscheins Keller eine zentrale Bedeutung zu«, sagte Mannhardt. »Ich habe das so im Gefühl, und mein Gefühl, das trügt mich nie. Denkt mal daran, was uns der Junge gesagt hat, als wir in Frohnau waren: ›Da drin spukt es.‹«

Nach diesen Worten waren sich sein Enkel wie die Gefährtin seines Lebens einig in ihrem Hohn und Spott, und Mannhardt musste gewaltig an sich halten, nicht aufzustehen und zu sagen: ›Ihr könnt mich mal …!‹

»Könnten wir bitte ein bisschen konstruktiver sein!«, bat er mit gepresster Stimme.

»Bitte.« Heike wurde dienstlich. »Was schlägst du vor?«

»Es geht doch darum, wie wir Wiederschein zu einem Geständnis bringen können, und da scheint mir nach wie vor der Königsweg zu sein, ihn mit dem Tatort zu konfrontieren.«

»Das Gästehaus des ›à la world-carte‹ ist doch längst abgerissen«, sagte Orlando.

»Aber das Haupthaus steht noch«, hielt ihm Mannhardt entgegen.

»Und?«, fragte Heike.

»Wir müssen versuchen, Wiederschein in seinen Keller zu locken, um ihn dort weichzuklopfen«, wiederholte Mannhardt.

»Aber dort unten liegt niemand!« Heike stöhnte gequält.

»Bei Fontane allerdings liegt dort unten einer!«, rief Mannhardt mit dem Eifer eines Sektierers.

»Gott, hör mir endlich mit deinem Fontane auf!«

»Lass ihm eben seinen Willen«, sagte Orlando in Richtung Heike.

»Ich bin kein Kind mehr, dem man seinen Willen lassen muss, damit es nicht mehr schreit«, ärgerte sich Mannhardt. »Das ist eine ganz logische Sache. Solange Wiederschein in Bremen hockt, haben wir keinen Einfluss auf ihn, nur hier in Berlin können wir ihn kleinkriegen.«

»Aber wie willst du ihn nach Berlin locken?«, fragte Orlando.

Mannhardt hatte ein wenig Angst vor Heike und zögerte mit einer Antwort. »Ich habe da eine Idee …«

»Wir veranstalten in der verfallenen Villa eine Kellerparty!«, höhnte Heike.

»Genau!« Mannhardt gab sich kämpferisch. Nun gerade! »Er hat doch da einen Roman geschrieben, einen Roman mit stark autobiografischen Zügen …«

»Ja«, lachte Orlando. »›Der Urug‹. Ein deutscher Manager dreht einen indischen Guru so um, dass der vom Ganges an die Spree wechselt und hier total verdeutscht.«

»Einen Verlag dafür hat er bisher nicht gefunden«, hakte Mannhardt ein. »Aber wenn jetzt ein Filmproduzent kommt und sagt: ›Ich würde den Stoff gerne machen, zeigen Sie mir doch mal einen geeigneten Drehort. Ich habe gehört, Sie hatten eine Villa in Frohnau, die inzwischen nur noch mehr oder minder eine Ruine ist …‹ Wenn der Inder nun nach Berlin kommt und diese Villa erst einmal instand setzt und als seine Residenz ausbaut …«

»Das ist doch Hollywood!«, rief Orlando.

Mannhardt lachte. »Ohne einen Schuss Hollywood geht heutzutage überhaupt nichts mehr.«

»Und ohne Schneeganß ebenso wenig«, sagte Orlando. »Wenn schon, sollte das Ganze offiziell laufen, sonst möchte ich nachher nicht der Anwalt sein, der dich vertritt.«

Mannhardt nickte. »Meinetwegen auch mit Schneeganß, ich will mir nicht die Finger verbrennen. Schließlich bin ich Karsten Klütz gegenüber zu nichts verpflichtet.«

»Und wo willst du einen Filmproduzenten hernehmen, der da mitspielt?«, fragte Heike.

»Du hast doch neulich erst eine Reportage über einen verfasst … Ich komme nicht mehr auf den Namen …?«

»Das war der Hannes Hahn …«

»Ja, den sie gerade zum Honorarprofessor an der Filmhochschule gemacht haben.« Auch Orlando hatte von ihm gehört. »Der Zigarrenraucher … ›Prager Schinken‹ ist ein toller Film, vom Aufstand 68, da kriegt er vielleicht einen Oscar für.«

»Der wird sich auf das Spielchen mit Wiederschein nicht einlassen«, sagte Heike.

Mannhardt sah das anders. »Warum denn nicht? ›Der Urug‹ ist kein schlechter Stoff, und wenn Wiederschein damals wirklich seinen Onkel umgebracht hat, dann gibt das so viel Promotion, dass das Ding ganz von allein läuft. Der Abel Hradschek hat sich selbst eingesperrt – und dadurch ist bei Fontane der Fall gelöst worden, bei uns aber wird der Wiederschein eingesperrt – und schmort da unten im Keller so lange, bis er ein Geständnis abgelegt hat.«

»Ohne mich!«, rief Heike.

»Du sollst ja auch nicht mit in die Villa kommen, du sollst nur den Professor Hahn überreden, dass er Wiederschein nach Berlin holt.«

»Da kannst du lange warten!«

»Wer lange wartet, zu dem kommt alles.«

 

*

 

»Be Berlin«, sagte Orlando Drewisch in Anspielung auf die neue Werbekampagne des Senats. »Be bescheuert.« Damit meinte er sich und seinen Großvater, wie sie da vor der verfallenen Villa des ›à la world-carte‹ standen und warteten. Auf den Filmproduzenten, auf Wiederschein, auf Schneeganß. Die kamen nicht, dafür tauchte Carola Laubach auf. Sie hatte sie hinter ihrem Erkerfenster erspäht.

»Haben Sie noch nicht genug Schaden angerichtet?«, fauchte sie.

»Wieso Schaden angerichtet?«, fragte Mannhardt.

»Na, wieder blickt ganz Berlin auf uns und wartet, dass ein neuer Mord geschieht.«

Orlando grinste. »Erhoffen Sie sich in dieser Hinsicht etwas für Ihre Person?«

»Wie?« Carola Laubach hörte nicht nur schwer, sie hatte auch Schwierigkeiten, hinter den Sinn des Gesagten zu kommen.

Orlando wurde direkter. »Wer will Sie denn ermorden?«

»Damit spaßt man nicht, junger Mann!«

»Die Kriminalkomödie und überhaupt das ganze Genre ist ein verzweifelter Versuch der Menschheit, mit dem Schrecken fertig zu werden«, erklärte ihr Mannhardt.

»Sie müssen mich nicht belehren!«, sagte Carola Laubach mit einiger Schärfe.

Mannhardt grinste. »Ich weiß, Sie waren selber einmal Lehrerin.«

»Selbst, nicht selber. Das ist Umgangssprache.«

»Aber wenn man miteinander umgeht, kann man doch auch die Umgangssprache gebrauchen«, wandte Orlando Drewisch ein.

»Es kommt immer auf den Adressaten an, junger Mann!«, belehrte sie ihn, um sich wieder in ihren Garten zu begeben. »Auf Wiedersehen.«

»Die Mordkommission kümmert sich gern um Sie!«, rief ihr Orlando hinterher.

»Sei doch nicht so gemein«, sagte Mannhardt.

»Da ist sie doch schon.« Orlando wies auf Schneeganß, der gerade in einem BMW angerollt kam.

Als er ausgestiegen war, begrüßte man sich mit professioneller Freundlichkeit, ohne Herzlichkeit zu heucheln.

»Klütz kommt nicht?«, fragte Schneeganß und gab damit zu verstehen, dass er die ganze Aktion für einen ausgemachten Schmarren hielt.

Mannhardt blieb gelassen. »Nein, das hättest du in die Wege leiten müssen, nicht wir. Aber bei ihm ist doch eh alles klar.«

Schneeganß verneinte das. »Bei ihm ist nur dann alles klar, wenn Wiederschein die Tat gesteht, vorher nicht. Ah, da ist er ja.«

Gerade rollte Professor Hahn vorbei, und neben sich hatte er Rainer Wiederschein sitzen. Sie hatten schnell einen Parkplatz gefunden und stießen zu Schneeganß, Mannhardt und Orlando.

»Sie auch hier?« Wiederschein schien überrascht.

»Sie wissen ja, dass Klütz …« Schneeganß brauchte den Satz nicht zu vollenden, um verstanden zu werden. »Und da ich den Fall damals federführend bearbeitet habe, bin ich jetzt ausgeguckt worden, die Sache zu verfolgen, falls der Mord an Schulz neu verhandelt werden sollte.«

Wiederschein lachte. »Ich habe inzwischen auch ›Unterm Birnbaum‹ gelesen, und nun erwarten alle von mir, dass ich in den Keller meines früheren Hauses gehen werde, um da die Leiche meines Onkels auszubuddeln. Vielleicht war es ja damals unter der Garage drüben nur sein Doppelgänger.«

Mannhardt ließ alle Hoffnung fahren, Wiederschein ins Bockshorn jagen zu können. Der erlitt bestimmt keinen Schwächeanfall, wenn die Falltür zu seinem Keller über ihm zugeschlagen wurde, und schrie: ›Holt mich hier raus, ich will alles gestehen!‹ Heike hatte recht gehabt, ihr Plan war nicht etwa genial, sondern nur kindisch. Gott sei Dank sorgte Professor Hahn dafür, dass die Szene erträglich blieb, indem er die ›location‹ kritisch unter die Lupe nahm.

»Herr Wiederschein, prima, diese alte Villa. Als Ihr Manager nach Indien geht, um dort erleuchtet zu werden, ist sie ein Prunkstück, während er zwischen Bombay und Delhi durch die Lande zieht, verfällt sie – und dann kommt der umgedrehte Guru, der Urug, zurück, um sie wieder herzurichten und zu seiner Residenz zu machen, während der Berliner Manager in Indien in den Müllbergen etwas zu essen sucht.«

»Der Reganam«, sagte Orlando.

»Wer?«, fragte Wiederschein.

»Na, der umgedrehte Manager.«

Dieserart war die Stimmung ziemlich entspannt, als Schneeganß die Schlüssel hervorzog, die er sich bei der Immobilienfirma besorgt hatte, um die Türen zur Villa aufzuschließen.

»Ich hätte sie ja gerne alle vier zu Austern und Kaviar eingeladen«, sagte Wiederschein. »Aber leider ist meine Küche nicht mehr auf einen solchen Ansturm eingerichtet.«

»Es riecht auch etwas unappetitlich«, sagte Professor Hahn, als Schneeganß die Eingangstür aufgeschlossen hatte und sie in den Flur getreten waren.

Mannhardt und Schneeganß hatten daran gedacht, dass ja die Stromleitungen von Vattenfall längst gekappt worden waren, und sich mit Taschenlampen versehen. Die wurden nun eingeschaltet, und in ihrem Schein bewegte sich der kleine Trupp in Richtung Keller.

Als sie dort angekommen waren und vor einer Falltür standen, erklärte Wiederschein ihnen, dass es unter dem eigentlichen Keller noch einen geheimen Keller gebe.

»Diese Falltür hier ist das große Geheimnis des Hauses. Die Vorbesitzer haben, als es mit dem Nazireich zu Ende ging, die Hausplatte durchstoßen und unter dem Keller einen Schutzraum anlegen lassen, um sich und ihre Wertsachen vor den anrückenden Russen in Sicherheit zu bringen. Ich habe dieses Gewölbe für meine sündhaft teueren Weine genutzt, aber auch einen kleinen Tresor hinunterschaffen lassen.« Er machte eine kleine Pause, um die Wirkung seiner nachfolgenden Worte zu erhöhen. »Fontane zufolge muss hier der Szulski vergraben sein beziehungsweise der Schulz … Viel Spaß beim Suchen, meine Herren.«

»Vascheißan kann ick ma alleene«, brummte Mannhardt.

Orlando scheiterte beim ersten Versuch, die Falltür, eine schwere Platte aus geriffeltem Stahl, mit den bloßen Fingern anzuheben, und auch als Schneeganß ihm zur Hilfe kam, gelang dies nicht.

»Wir brauchen eine Brechstange«, sagte Mannhardt. »Oder wenigstens einen Kuhfuß oder Schraubenzieher.«

Professor Hahn bückte sich. »Da vorn kommt man doch mit dem Finger runter. Da muss schon einer …«

Nun hatte auch Orlando die kleine Vertiefung entdeckt, schob Mittel- und Zeigefinger seiner rechten Hand unter die Falltür und hob sie so weit an, dass Schneeganß seine Fußspitze darunterschieben konnte.

Süßlicher Verwesungsgeruch schlug ihnen entgegen, so stark, dass sie die Tür fast hätten fallen lassen.

»Das kann nur von einer Leiche kommen«, sagte Mannhardt.

Und richtig, als sie wenig später die schwere Falltür mit vereinten Kräften angehoben hatten, erfasste der Lichtkegel ihrer Taschenlampen den Kopf einer Frau.

»Das ist doch …« Schneeganß drehte sich um. »Herr Wiederschein, kommen Sie mal, das ist doch Ihre Frau.« Er schwenkte seine Taschenlampe wie einen Suchscheinwerfer. »Wo ist er denn geblieben?«

Wiederschein war schon die Treppe hinaufgestürmt und konnte entkommen, da es ihm gelang, Schneeganß und die anderen im Keller einzuschließen.